Der Verein Ethik und Medizin Schweiz (VEMS), weitere Ärzte und Bürger haben den renommierte Berner Professor für Sozialversicherungsrecht und Gesundheitsrecht Prof. Dr. iur. Ueli Kieser gebeten ein Rechtsgutachten über das Bundesgerichtsurteil (2C_658/2018) vom 18. März 2021 zu erstellen. Lesen Sie dazu unser Artikel vom 26. Oktober 2021.
Es gibt Hinweise, dass wesentliche Grundlagen der Verfassung und das Gesetz bei diesem Bundesgerichtsurteil nicht beachtet wurden.
Eine Zusammenfassung des Gutachten finden Sie weiter unten.
Das vollständige Gutachten können Sie hier herunterladen.
Prof Dr. Kieser, Zürich, zur Bedeutung des Bundesgerichtsurteils 2C_658/2018
„Das Patientengeheimnis gehört gemäss gängiger Rechtsauslegung allein dem Patienten. Dürfen Kantonsärzte Einblick nehmen, da sie ans Arztgeheimnis gebunden sind? Können Kantonsärzte bei Fachärzten mit spezifischer Ausbildung überhaupt eine Qualitätskontrolle vornehmen?
Inwieweit besteht ein Zusammenhang zwischen dem strafprozessualen Akt gemäss Bundesgerichtsurteil DTF 141 IV 77 E.5.2 und dem vorliegenden verwaltungsrechtlichen Akt? Wie steht es um BV Art. 13 (Regelt den Schutz der Privatsphäre) und EMRK Art. 8? (Regelt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Ist die Begründungsgrundlage mit Art. 321 StGB vereinbar? (Regelt allfällige Ausnahmen im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismässigkeit, daneben liegen weitere Bestimmungen, vor, die den Schutz von Patientendaten ermöglichen, mittels Vertragsfreiheit im Behandlungsvertrag kann ein Schutz entsprechender Daten vereinbart werden.)
Die Betroffenen werden persönliche und intime Informationen, die der Behandlung dienen, nur erteilen wollen, wenn die Vertraulichkeit gewährleistet ist. Die Geheimhaltung schützt die Persönlichkeit des Patienten.
Kumulativ zur Anwendung kommen bei der Vertraulichkeitspflichten bei Ärzten vertragliche Vertrauenspflichten (OR 398), das strafrechtlich geschützte Berufsgeheimnis (Art. 321 StGB) und Bearbeitung und Bekanntgabe von besonders schützenswerten Personendaten (Art. 3ff. Art. 35 DSG) sowie die Berufspflichten von Medizinalpersonen (Art. 40 MedBG). Der Arzt hat das höchste Schutzniveau zu beachten.
Die Geheimhaltungspflicht des Arztes verbietet jede Weitergabe des Geheimnisses an Dritte auch nach Abschluss der Behandlung. Medizinalpersonen können alternativ Art. 320 StGB oder 321 StGB unterstehen je nachdem ob das Geheimnis ihre öffentliche oder private Aufgabe betrifft. Die Strafbarkeit entfällt jedoch, wenn der Patient seine Einwilligung zur Weitergabe der Informationen gibt.
Auch Art. 33 ATSG regelt ergänzend zu den vorherigen Bestimmungen die Schweigepflicht. Vorerst wurden nur Personen angesprochen welche die Sozialversicherung durchführen oder den Vollzug kontrollieren, jedoch in der Folge wird der Anwendungsbereich auf Personen ausgedehnt welche die Durchführung beaufsichtigen. Hierunter fallen auch allenfalls auf interne Anordnungen abgestützte einzelfallweise Überprüfungen, wobei hier allgemein Aufsicht gemeint ist. Es reicht in diesem Zusammenhang aus, wenn die betreffende Person an der Durchführung einer in Art. 33 ATSG erwähnten Funktion beteiligt ist, etwa Medizinalpersonen, Abklärungsstellen, Heilanstalten etc.
Für die Bestimmungen des kantonalen Rechts ist deren Übereinstimmung mit dem übergeordneten Bundesrecht von zentraler Bedeutung, vorgenannte Bestimmungen gehören allesamt zum Bundesrecht.
Kantone sind gemäss Art. 6 Abs. 1 ZGB befugt Einschränkungen der Vertragsfreiheit festzulegen, jedoch sind verschiedene Grenzen zu beachten. Beispielsweise muss ein öffentliches Interesse an der betreffenden kantonalen Regelung aufgezeigt sein, insbesondere im Hinblick auf die Vertragsfreiheit gemäss Art. 19 OR. Haltung des Bundesgerichts hierzu uneinheitlich. Das Bundesgericht hat diese Frage nicht berücksichtigt. Auch geht es nicht auf Art. 33 ATSG ein, was hier zwingend wäre.
Die Meldepflicht im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen muss laut Bundesgericht auf klar abgegrenzte Situationen beschränkt sein, in denen ein übergeordnetes Interesse besteht dass die Strafverfolgungsbehörde von der strafbaren Handlung erfährt. Wenn eine kantonale Regelung über diesen engen Bereich hinaus Meldepflicht statuiert, verstösst diese Norm gegen das übergeordnete Bundesrecht, welches beschränkt ist auf aussergewöhnliche Todesfälle, das heisst, wenn bei einem Todesfall Anzeichen für einen unnatürlichen Tod bestehen.
Angehörige der Gesundheitsberufe müssen jeden Fall einer strafbaren Handlung melden, den eine Fachperson in Ausübung ihrer Funktion oder ihrem Beruf begangen hat. Es wird hier eine Spezifizierung des umschriebenen Sachverhaltes verlangt. Die Einordnung der in Frage stehenden Aufsichtsmassnahmen müssen differenziert werden. E.9 des Urteils setzt sich mit der Frage auseinander ob und inwieweit im Rahmen einer Aufsicht Einblick in Unterlagen eines Behandlungsverhältnisses genommen werden kann. Die reaktive Aufsicht, d.h. die auf konkrete Beschwerde hin erfolgende Aufsicht, und die durch einen bestehenden Bericht ausgelöste Aufsicht einerseits müssen von der ordentlichen proaktiven Aufsicht andererseits abgegrenzt werden.
E. 9.5 befasst sich mit den gesundheitsrechtlichen Qualitätsanforderungen. Die Sphäre des Patienten ist nur dadurch geschützt, dass die beaufsichtigenden Personen ihrerseits an die Geheimhaltung und Vertraulichkeit gebunden sind. Eine routinemässige und in Abständen von wenigen Jahren pauschal durchgeführte proaktive Aufsicht kann indessen nicht so ausgestaltet sein, dass ohne konkrete Anhaltspunkte auch in entsprechende Patientenunterlagen Einsicht genommen werden kann. Um dies zu tun, muss im konkreten Fall ein konkreter Hinweis darauf bestehen, dass eine Berufspflicht in schwerer wiegendem Masse verletzt ist. Dies ist indessen bei den hier interessierenden periodischen und prokativen Kontrollen gerade nicht verlangt. Insoweit ist dem Bundesgericht also entgegen zu halten, dass es die bundesrechtlichen Bestimmungen zum Schutz des Berufsgeheimnisses und zur Schweigepflicht unzureichend berücksichtigt.
Bei der proaktiven Aufsicht kann festgehalten werden es gehe darum, die Qualität der Versorgung zu überprüfen. Jedoch bestehen auf Bundesebene zahlreiche und breit gestreute Bestimmung zur Qualitätssicherung. Es ist wenig schlüssig bei dieser Ausgangslage der kantonalen Aufsichtsbehörde hinzutretende Qualitätsüberprüfungen zuzuordnen und zudem zuzulassen, dass im Rahmen einer allgemeinen Qualitätsprüfung bereits proaktiv Einsicht in Patientendaten genommen werden darf. Damit ist in dieser Frage das bundesgerichtliche Urteil nicht überzeugend.
Das Bundesgericht lässt ausser Acht, dass eine Schweigepflicht im Behandlungsvertrag auch vertraglich vereinbart werden kann und dass diesbezüglich die Vertragsfreiheit gilt. (Art. 6 ZGB) Art. 33 ATSG wird übergangen. Hier werden Ärztinnen und Ärzte zu einer nicht eingeschränkten Schweigepflicht verpflichtet. Dem Bundesgericht kann nicht gefolgt werden, wenn es zulässt, dass im Rahmen einer proaktiven Aufsicht mit Blick auf die Sicherung der Qualität Einsicht in Patientenunterlagen genommen werden kann. Hier übergeht das Bundesgericht den bundesrechtlich gewährleisteten hohen Schutz der entsprechenden Daten und Unterlagen. Zudem sind im Krankenversicherungsgesetz auf Bundesebene weitreichende und breit gefächerte Qualitätsanforderungen festgelegt. Im Rahmen von kantonalem Recht bei einer pauschalen periodischen proaktiven Aufsicht Einsicht in Patientendaten zuzulassen um die Qualität zu sichern ist wenig schlüssig. Sie sind auf Bundesebene schon umfassend geregelt, weshalb dem kantonalen Recht diesbezüglich keine hohe Bedeutung mehr zukommt.
Die vorgegebene Wertung bezüglich Achtung des Privat- und Familienlebens sowie Schutz der Privatsphäre ist auch bei der Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von kantonalen Bestimmungen wegleitend. Im Rahmen einer Qualitätssicherung Eingriffe in das Privat- und Familienleben vorzunehmen ist nicht überzeugend. Ausnahmen von der ärztlichen Berufsgeheimnis müssen aufgrund des Verhältnismässigkeitsprinzips erfolgen. Es kommt jedoch eingrenzend hinzu, dass auf Bundesebene neben Art. 321 StGB weitere Bestimmungen vorliegen, welche dazu bestimmt sind, den Schutz der Patientendaten zu gewährleisten. Ferner kann im Rahmen der Vertragsfreiheit im Behandlungsvertrag ein Schutz der entsprechenden Daten vereinbart werden. Das hier interessierende Urteil zeigt, dass die Kantone die Grenzen der Schutzbestimmungen des Bundesrechts berücksichtigen müssen. Das Bundesgericht hat bestimmte Regelungen des Kantons Tessin als nicht verfassungsmässig betrachtet und die entsprechenden Bestimmungen aufgehoben. Im Hinsicht auf die proaktive Aufsicht ist es überzeugender ebenfalls eine fehlende Verfassungsmässigkeit anzunehmen. Die durch das Bundesgericht gesteckten Grenzen müssen bei Einschränkungen des Berufsgeheimnis und der Schweigepflicht beachtet werden.“